25. November 2024
„Schalom Schabbat": Nach dem Gottesdienst versammeln sich die Gäste aus dem Dekanat Büdinger Land mit Rabbiner Andrew Steiman (6.v.r.) und seiner Tochter zum Foto in der Synagoge, rechts Dekanin Birgit Hamrich. Organisiert hat den Besuch Ökumene-Referentin Elisabeth Engler-Starck (5.v.r.). Foto: Seipel
„L’Chaim – Auf das Leben!“ sagen die beiden alten Damen, heben ihre Weingläser und prosten den Gästen aus dem Evangelischen Dekanat Büdinger Land zu. An der langen Tafel wird derweil aufgetischt: Linsensuppe, Hering, Salat, Ei, Brot und Kuchen. Es ist Freitagabend. Mit dem Sonnenuntergang hat der Sabbat begonnen. Gemeinsam haben Juden und Christen mit Rabbiner Andrew Steiman einen Gottesdienst gefeiert und den Sabbat begrüßt: „Schalom Schabbat“ oder, wie der Rabbi sagt, „Gut Schabbes“. Nachdem er gemeinsam mit seiner Frau den Kiddusch über einem Becher Wein gesprochen und damit den Sabbat eingeleitet hat, wird gegessen. Die Atmosphäre ist offen und herzlich. Im Stimmengewirr hört man Deutsch, Russisch und Englisch.
Weil es seit der Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten in der Region des Büdinger Lands keine einzige jüdische Gemeinde und somit auch keine Begegnung zwischen Christen und Juden im Alltag mehr gibt, hat Elisabeth Engler-Starck, Ökumene-Referentin des Dekanats, einen Besuch in der Budge-Stiftung in Frankfurt, eine Senioren-Wohnanlage für Juden und Nichtjuden, organisiert. „Wissensvermittlung ist der erste Schritt, wenn wir das gerade rund um den 9. November geäußerte ,Nie wieder‘ ernst nehmen“, so Engler Starck. „Wo Wissen über jüdisches Leben keine Alltagserfahrung mehr ist, müssen wir anders in Beziehung treten.“ Die Ausstellung „#beziehungsweise – jüdisch und christlich: näher als du denkst“ in der Marienkirche Büdingen und eben dieser Ausflug nach Frankfurt schlagen eine Brücke.
Nicht nur Menschen jüdischen Glaubens besuchen den Sabbat-Gottesdienst in der Budge-Stiftung. Auch sind nicht alle Gäste Heimbewohner, sondern kommen auch aus umliegenden Stadtteilen. Sie ziehen den kleinen Synagogenraum, in dessen hinteren Stuhlreihen die Sitzordnung – links die Frauen, rechts die Männer – sich auflöst, der großen Westendsynagoge vor. Rabbiner Andrew Steiman, ein kleiner, kluger Mann mit verschmitztem Blick, unterbricht sein Gebet ein ums andere Mal, um die Nachzügler zu begrüßen und um den Gästen aus dem Büdinger Land den Ablauf und den Inhalt der hebräischen Bibeltexte zu erläutern. Davon, findet er, hätten doch alle etwas. Wie von den jüdischen Witzen, die er gelegentlich einstreut.
Im Alten- und Pflegeheim der Henry und Emma Budge-Stiftung in Frankfurt leben Juden und Nichtjuden zusammen, aktuell sind es etwa 300 Menschen. Das Haus ist eine einzigartige Einrichtung. Die Bewohner werden durch Rabbiner Steiman, durch die evangelische Pfarrerin Melanie Lohwasser und einen katholischen Geistlichen begleitet. Regelmäßig finden in der Synagoge und in der Kapelle Gottesdienste statt, religiöse Feiertage und Feste begeht man gemeinsam. Eine koschere Verpflegung ist neben der Hauptküche selbstverständlich.
„Bei uns ist immer etwas los“, liest man auf der Homepage der Budge-Stiftung. Was nicht übertrieben ist. Die beiden Damen, nennen wir sie Lilli und Ava, berichten von einem Zumba-Kurs, von Sitz-Yoga und Gymnastik-Angeboten, die sie jederzeit besuchen können. Bärbel, schon nicht mehr gut zu Fuß, lobt die Physiotherapeuten im Haus, „die sind spitze“, und Rabbi Steiman stellt den Gästen aus dem Büdinger Land Andrea vor, die nicht nur in der Theatergruppe des Heims spielt – „sehr gerne Sachen von Loriot“ -, sondern auch zum Redaktionsteam der Zeitschrift „Shalom“ gehört, die regelmäßig von Bewohnern für Bewohner gemacht wird. Im Veranstaltungskalender findet man Vorträge, Gespräche, und Konzerte. Im Café „Emmas“ treffen das Innen und das Außen zusammen.
Lilli und Ava, in den 1990er Jahren aus St. Petersburg nach Deutschland übergesiedelt, sind dankbar, hier ihren Lebensabend verbringen zu können, an einem Ort, „an dem sich Juden und Nichtjuden gleichermaßen zu Hause fühlen und in einer Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit gemeinsam ihren Alltag gestalten“, wie es im Leitbild der Stiftung heißt. (jub)
DIE HENRY UND EMMA BUDGE-STIFTUNG
Das jüdische Ehepaar Henry und Emma Budge hat die Stiftung 1920 anlässlich des 80. Geburtstags von Henry Budge gegründet, um Juden und Nichtjuden ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Der erste Sitz des Henry und Emma Budge-Heims für alleinstehende alte Menschen war im Frankfurter Westend. 1930 zogen dort die ersten Bewohner ein. Wenig später, nach Hitlers Machtergreifung 1933, begannen die Repressalien durch das faschistische Regime; 1939 hatten die Nazis die letzten jüdischen Bewohner vertrieben. Das neue Altenheim der Budge-Stiftung entstand 1968 in Seckbach. Heute erinnert hier eine Gedenkstätte an die 23 Bewohnerinnen und Bewohner des ursprünglichen Heims, die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fielen. Besondere Bedeutung haben die Gedenktage zur Shoah: der 21. April als internationaler Holocaust-Gedenktag, der 9. November als Erinnerung an die Pogrome 1938 und der 27. Januar als Befreiungstag des Konzentrationslagers Auschwitz. (jub)
Die Porträts der Stiftungs-Gründer Henry und emma Budge hängen im Foyer der Einrichtung. Foto: Seipel
Evangelisches Dekanat Büdinger Land | Bahnhofstraße 26 | 63667 Nidda
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