Vom „Achtliederdruck“ bis zur digitalen Datenbank

500 Jahre Gesangbuch: Eine Zeitreise mit dem Organisten Herbert Vonhof

12. August 2024

Besonderes Jubiläum: Das Gesangbuch ist 500 Jahre alt, es gibt unzählige Ausgaben, denn Musik gehört zum Kern evangelischer Verkündigung. Foto: Seipel

Organist Herbert Vonhof. Foto: Seipel
Organist Herbert Vonhof. Foto: Seipel

Ein Gottesdienst ohne Musik? Undenkbar. Musik gehört zum Kern evangelischer Verkündigung. In einem Briefentwurf Martin Luthers aus dem Jahr 1530 heißt es: „… dass nach der Theologie keine Kunst sei, die der Musik gleichzustellen wäre, weil sie allein nach der Theologie ein ruhiges und fröhliches Herz schenkt.“ Die ersten evangelischen Gesangbücher wurden vor 500 Jahren gedruckt, Tausende Ausgaben sollten folgten. Am Anfang standen kleine Liederdrucke, zwischendurch drohten Gesangbücher ins Uferlose auszuarten; im 20. Jahrhundert verständigte man sich auf einen Umfang, der sich als gottesdienst- und alltagstauglich erwies. Herbert Vonhof, ehemaliger Gymnasiallehrer aus Gedern, Organist der Kirchengemeinden Wallernhausen, Fauerbach, Ober-Lais, Glashütten und Gedern, hat sich intensiv mit dieser Geschichte befasst. Hier in Auszügen sein Vortrag, den er in Gedern im Gottesdienst zum Jubiläum „500 Jahre evangelisches Gesangbuch“ hielt:

 

Gesungene Botschaft

 

Ausgelöst wurde die Dichtung von Kirchenliedern durch den Tod zweier Augustinermönche, die 1523 auf dem Marktplatz von Brüssel verbrannt wurden. „Ein neues Lied wir heben an“ hieß der erste Text, den Martin Luther unter dem Eindruck dieses Ereignisses schrieb. Innerhalb weniger Monate folgten noch weitere Lieder, Lieder, die wir zum Teil heute noch kennen: „Nun freut euch liebe Christen gmein“ oder auch „Aus tiefer Not“. Er dichtete diese Lieder, weil er glaubte, dass man die christliche Botschaft auch und vielleicht gerade durch gesungene Texte – also Lieder – verbreiten konnte.

 

Erschienen sind diese Lieder zunächst als sogenannte „Einblattdrucke“. Was lag näher, als diese „Einblattdrucke“ zu sammeln und zusammen herauszubringen? Zum Jahreswechsel 1523/24 erschien der „Achtliederdruck“ des Nürnberger Druckers Jakob Gutknecht. Diese acht Lieder auf vier Seiten kann man noch nicht als Gesangbuch bezeichnen, aber sie lieferten den Anstoß zu einer Geschichte, die sich bis heute fortsetzt.

 

Noch im selben Jahr (1524) erschienen in Nürnberg, Breslau, Augsburg, Zwickau und immer wieder Erfurt und Wittenberg kleine Büchlein zwischen acht und 48 Seiten. Die Aufzählung verschiedener Orte und unterschiedlicher Umfänge zeigt schon, dass es auch unterschiedliche Gesangbücher waren. 20 Jahre nach dem „Achtliederdruck“ war das sogenannte „Babstsche Gesangbuch“ bereits auf 560 Seiten angewachsen. Einen Höhepunkt stellt das „Gesangbuch der Gemeine in Herrenhuth“ von 1735 mit 2154 Liedern dar.

 

100000 Kirchenlieder

 

Gegenwärtig sind 7000 bis 8000 deutschsprachige Gesangbücher bekannt, die meisten davon sind evangelisch. In diesen finden sich circa 30000 Lieder, insgesamt schätzt man die Anzahl der Kirchenlieder seit der Reformation auf etwa 100000.

In den ersten Jahrhunderten besaßen sicher nur Menschen, die ein Verhältnis zu Büchern hatten, ein Gesangbuch. Sie lebten zumeist in Städten, hatten eine Schule besucht, vielleicht auch ein paar Semester an einer Universität verbracht. Alle anderen waren des Lesens und Schreibens unkundig. Das bedeutete, dass nur relativ wenige verschiedene Lieder im Gottesdienst Verwendung fanden.

 

Oft wurden Texte auf Melodien gesungen, die man kannte. Eine besonders beliebte Melodie war „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ mit circa 400 verschiedenen Texten. Man geht davon aus, dass in kleinen Gemeinden, die keinen ausgebildeten Musiker hatten, die Anzahl der gesungenen Kirchenlieder etwa zehn betrug, in gut singenden Gemeinden zwischen 30 und 50.

 

Im 19. Jahrhundert, nachdem fast in ganz Deutschland die Schulpflicht eingeführt war, konnte man in fast jedem Haushalt ein Gesangbuch finden. Die Bücher waren so gestaltet, dass sie vom Preis her erschwinglich waren, an die „Armen“ wurden bei Neuausgaben vom Landesherrn auch Gesangbücher verschenkt.

 

1854 erschien das erste „Deutsche Evangelische Kirchengesangbuch“ mit 150 Kernliedern, von denen noch 110 in unserem Gesangbuch vertreten sind. Trotzdem hielten die meisten Landeskirchen weiterhin an ihrem eigenen Gesangbuch fest. Erst 1915, also während des Ersten Weltkriegs, erschien das „Deutsche Evangelische Gesangbuch“ mit 342 Liedern im Stammteil und noch einmal fast 200 Liedern im Anhang. Dieser Anhang enthält „Geistliche Volkslieder“ wie zum Beispiel „Tochter Zion“, „O, du fröhliche“, „Ihr Kinderlein, kommet“, „So nimm denn meine Hände“ oder „Wir pflügen und wir streuen“.

 

Diese Lieder fehlten in dem 1950 erschienen „Evangelische(n) Kirchengesangbuch“, was im Laufe der Zeit als deutlicher Mangel empfunden wurde. Das war bei dem „Nachfolgemodell“ von 1993 anders. Im „Evangelischen Gesangbuch“ wurden diese Lieder wieder aufgenommen. Am ersten Advent wurde es eingeführt, 1996 war es in allen Landeskirchen verbreitet.

Freilich blieb es am Ende nicht bei einer einzigen Ausgabe; die evangelisch-lutherische Kirche Bayerns entwickelte ein eigenes Gesangbuch, das auch von Thüringen, Württemberg, Mecklenburg und Sachsen übernommen wurde. Jede Generation hat, seit es Neuauflagen von Gesangbüchern gibt, Kritik an den neuen Ausgaben geübt. Sie hat alte und vertraute Lieder vermisst, aber auch nicht alle neu aufgenommenen Lieder haben sich im Singen als geeignet erwiesen.

 

Ein Ausblick

 

Bleibt zum Schluss die Frage: Wie geht es weiter? Schon im Lutherjahr 2017 entschied der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die Vorarbeiten zu einem neuen Gesangbuch aufzunehmen. Ein künftiges Evangelisches Gesangbuch soll in gedruckter Fassung etwas 500 Lieder umfassen, Eine digitale Datenbank soll alle Anhänge der unterschiedlichen Regionalteilen sowie ausgeschiedene und neue Lieder enthalten. Man spricht von 2000 bis 2500 Liedern.