29. Oktober 2024
Engagierter Referent und aufmerksamer Zuhörer: Pfarrer Andreas Lipsch, Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Fotos: Seipel
Migration ist ein beherrschendes Thema, in der Politik wie in den Medien. Hitzig geführte Debatten über Grenzkontrollen und Zurückweisungen überlagern die drängenden Fragen nach Klimarettung und sozialer Gerechtigkeit. Soll man also über Flucht und Migration sprechen oder lässt man es lieber bleiben, weil auch die besten Argumente am Ende doch nur den Falschen in die Karten spielen? Das Evangelische Dekanat Büdinger Land hat sich für das Reden entschieden und dazu den Theologen und Menschenrechtsaktivisten Andreas Lipsch, Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), zum „Talk am Turm“ in den Johannitersaal des Dekanats nach Nidda eingeladen.
Erwartungsgemäß gab es an diesem Abend keine einfachen Antworten, dafür viel Erhellendes. Die Thematik ist zu komplex und vielschichtig, als dass es das eine Argument, die eine Antwort geben könne. So endete die Veranstaltung nach knapp zwei Stunden mit einer wichtigen Erkenntnis: „Wir brauchen mehr solcher analogen Formate wie dieses, in denen Debatten stattfinden und Meinungen ausgetauscht werden können, wo man mit einer Multiperspektive auf das Thema schaut und wo wir uns gegenseitig kompetent machen können“, so Lipsch. Kirche könne solche Räume öffnen, um „andere Diskurse einzuüben“ als die rauen und polemischen, die die Wahrnehmung verzerren.
Der Vortrag war überschrieben mit „Deutschland ein Einwanderungsland“. Ohne Fragezeichen, so Lipsch, denn Menschen seien schon immer aufgenommen worden und Menschen seien immer schon gegangen. Im 19. Jahrhundert beispielsweise hätten 35 Millionen Menschen Europa verlassen, meist aus wirtschaftlichen Gründen.
Niemals mehr sollte sich wiederholen, was Menschen während des Nationalsozialismus erleiden mussten: Entrechtet und verfolgt standen sie vor verschlossenen Grenzen. So fand der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ 1949 seinen Weg in das Grundgesetz. Aber die Verpflichtung zur Aufnahme von Schutzsuchenden, auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention, werde gerade von politisch Verantwortlichen in Frage gestellt.
Dem Stöhnen über „zu viele Flüchtlinge“ stellte Lipsch den Satz „Es kommen viel zu Wenige!“ gegenüber und belegte seine Aussage mit Zahlen, die der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Brücker erhoben hat. Da heißt es: „In Deutschland würde in einem kontrafaktischen Szenario ohne Migration von 2022 bis 2060 das Erwerbspersonenpotenzial um 35 Prozent sinken, die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis 2070 um 40 Prozent.“ Für Ökonomie und Gesellschaft „ein Drama“, sagte Lipsch. Unternehmen und Handwerksbetriebe suchten verzweifelt nach Arbeitskräften. „Und da ist überhaupt nicht von Hochqualifizierten die Rede.“ Eine weitere Zahl, von der man in der Stimmungsmache weder liest noch hört, nannte er: 86 Prozent der geflüchteten Männer sind nach acht Jahren Aufenthaltsdauer erwerbstätig.
Wie bringt man das zusammen: das Ächzen von Bund, Ländern und Kommunen und die händeringende Suche nach Arbeitskräften in den Betrieben? Im November vergangenen Jahres haben hessische Verbände und Initiativen mit dem „Aufruf: Hessen braucht eine Integrationsoffensive!“ eine zukunftsorientierte und humanitäre Migrations- und Flüchtlingspolitik gefordert. Darin heißt es: „Statt Diskurse der Begrenzung und Entrechtung zu bedienen, fordern wir eine verantwortungsvolle Integrationspolitik (…), die völker- und menschenrechtliche Verpflichtungen nicht auszuhöhlen sucht, sondern die Menschenwürde und die Rechte aller in unserem Land lebenden Geflüchteten und Migrant*innen schützt.“
Der Europäischen Einigung liege der Gedanke „Frieden durch Freizügigkeit“ zugrunde: In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts könne Freizügigkeit den Frieden besser fördern und sichern kann als Mauern und Grenzen es vermögen. (Andreas Lipsch hat dazu vor einigen Monaten einen Vortrag gehalten. Sie finden ihn hier). Jetzt errichte die EU, 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, Mauern, um den Kontinent zu schützen. Schutz könne es aber nicht voreinander, sondern nur miteinander geben, sagte Andreas Lipsch, denn die künftigen Herausforderungen seien nur gemeinsam zu lösen.
„Weshalb sind wir eigentlich so ängstlich?“, fragte ein nachdenklicher Konrad Schulz, der die Diskussion moderierte, am Ende der Veranstaltung. Und an Lipsch gewandt: „Sie machen uns Mut, für unsere Region weiterzudenken und miteinander ins Gespräch zu kommen.“ Dem schloss sich Dekanin Birgit Hamrich an, die insbesondere den Initiatoren von „Talk am Turm“, neben Konrad Schulz sind das Rainer Böhm und Hans Hamrich, dankte, dass sie gesellschaftlich relevante Themen aufs Tapet bringen und damit Räume für den Diskurs öffnen. (jub)
Die Veranstaltung wird gefördert mit Mitteln der Kulturstiftung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN).
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