19. November 2024
Manche Lieder kann man nicht alleine singen. Damit es klappt mit dem hebräischen Text, hat Daniel Kempin Transparente mitgebracht, die Menschen aus dem Publikum für alle lesbar hochhalten. Foto: Seipel
Es ist ein atmosphärisch dichter Abend, mit dem das Programm 2024 der Veranstaltungsreihe „Talk am Turm“ des Evangelischen Dekanats Büdinger Land endet. Daniel Kempin, Kantor einer liberalen jüdischen Gemeinde in Frankfurt, hat sein Publikum im Johannitersaal des Margaretha-Pistorius-Hauses in Nidda mitgenommen auf eine Reise durch die so reiche wie entbehrungsreiche jüdische Geschichte: 4000 Jahre im Schnelldurchlauf.
Die Geschichte des jüdischen Volkes erzählt von Verfolgung, Vertreibung und Ermordung, von Flucht, Emigration und Exil, aber auch von einer reichen Kultur und einem regen Geistesleben. Daniel Kempin hat seinem Programm den Titel „oifn weg“ gegeben. Das ist Jiddisch und bedeutet „Auf dem Weg“. Auf die besungenen Ereignisse wirft Kempin zwischen den Liedern immer wieder Schlaglichter, um das Geschehen einzuordnen. Die Reise durch die jüdische Geschichte ist auch eine Reise durch Weltreiche.
Mit dem Aufruf an Abraham, seine Heimat zu verlassen, beginnt vor 4000 Jahren dieser Weg. Der Flucht aus ägyptischer Sklaverei folgen Zeiten des Exils. Daniel Kempin singt und erzählt von den Lebensbedingungen im zaristischen Russland , wie die Juden aus Ost- und Westeuropa fliehen, vom Neuanfang in den USA.
Das Lied „Mir Lebn Ejbig“, entstanden 1943 im Ghetto von Vilnius, handelt vom Überlebenswillen des jüdischen Volkes, das – seinen Feinden zum Trotz – auch schlechte Zeiten überstehen wird:
„Mir lebn ejbig. Mir sajnen do,
mir lebn ejbig in jeder Sho!
Mir weln leben un der leben,
schlechte Zejten ariberlebn.
Mir lebn ejbig! Mir sajnen do!“
„Wir leben ewig, wir sind da.
Wir leben ewig in jeder Stunde.
Wir wollen leben und erleben.
Und schlechte Zeiten überleben.
Wir leben ewig! Wir sind da!“
Unermessliches Leid, Hoffnung und Zuversicht liegen so nah beieinander, dass man im Johannitersaal des Dekanats eine Stecknadel fallen hören könnte, als der letzte Ton des Liedes verklungen ist. Erst dann setzt Applaus ein.
Den 7. Oktober 2023, den Terrorangriff der Hamas auf Israel, nennt Kempin „die größte Zäsur in meinem Leben“. Jahrzehntelange Hoffnungen, jahrzehntelanges Engagement für eine friedliche Koexistenz seien durch „pure Barbarei“ zerschlagen worden. „Und trotzdem müssen wir einen Weg finden“, fährt er fort. Das Lied „Ein li Eretz acheret“, auf Deutsch „Ich habe kein anderes Land“, das er anstimmt, steht für die Ambivalenz, für die Zerrissenheit, denn sowohl Pazifisten als auch Kriegsbefürworter singen es.
Um die Botschaft der in hebräischer und jiddischer Sprache gesungenen Lieder zu verstehen, bedarf es keiner Sprachkenntnisse. Die Melodien und die eindrückliche Interpretation Kempins, der sich ganz der Musik hingibt, in dessen Gesicht sich Freude, Entzücken, Trauer und Schmerz spiegeln, rühren an.
Der Abend endet mit drei Strophen von Leonard Cohens „Halleluja“ – eine in Englisch, eine in Jiddisch und eine in Hebräisch.
„Sie haben uns mitgenommen in ein Universum voller Schmerz und Lebensfreunde“, dankt eine sichtlich bewegte Dekanin Birgit Hamrich nach zwei Stunden dem jüdischen Kantor für diese Zeitreise „von Ewigkeit zu Ewigkeit“.
Daniel Kempin ist in einer christlichen Familie aufgewachsen. Seine jüdische Großmutter hatte sich taufen lassen, als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen. Mit seinem Bekenntnis zum jüdischen Glauben hat Daniel Kempin diese Entscheidung rückgängig gemacht. Sein Jiddisch hat er in Intensivkursen in England und Israel gelernt. (jub)
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