26. März 2025
Matthias Schwarz präsentiert eine Reihe von Zahlen aus der ForuM-Studie.. Darin wurden 1259 beschuldigte und 2225 betroffene Personen festgestellt. Eine Dunkelfeldschätzung geht von 100000 Betroffenen aus für den Zeitraum von 1950 bis heute. ©Judith Seipel
Auf ein volles Haus treffe er selten, wenn er über sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie spricht, bedauert Matthias Schwarz. Dass jetzt beim „Talk am Turm“ im Margaretha-Pistorius-Haus des Evangelischen Dekanats Büdinger Land in Nidda die Stühle kaum ausreichten für die vielen Interessierten, mag auch daran gelegen haben, dass Schwarz im Dekanat kein Unbekannter ist. Bis zu seinem Ruhestand vor eineinhalb Jahren war er Pfarrer der Kirchengemeinden Eichelsdorf und Ober-Schmitten.
Heute ist Matthias Schwarz Mitarbeiter der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), welche die ForuM-Studie in Auftrag gegeben hat. In dieser Funktion ist er häufig im Land unterwegs, um über das lange Zeit ausgeblendete Thema Missbrauch aufzuklären. Erst seit 2018 gebe es dazu größere kirchliche Initiativen. „Hätten die Betroffenen nicht Druck gemacht, wäre gar nichts passiert“, urteilt Schwarz.
Er ist einer von ihnen. Sein Martyrium begann, als er zwölf Jahre alt war. Vier Jahre lang verging sich der Pfarrer seiner Gemeinde an dem Jungen. Sich jemandem anvertrauen? Unmöglich zu der damaligen Zeit und in diesem Umfeld. „Der Pfarrer ging bei uns daheim ein und aus“, berichtet Schwarz, „und ich hatte auch gar keine Worte für das, was mir geschah“. Er habe die Missbrauchserfahrung in seinem Innern „tief vergraben“. Erst viele Jahre später, nach einem Zusammenbruch, konnte er sich öffnen. Das Gespräch mit anderen Betroffenen sei wie eine Befreiung gewesen: „Ich bin ja ganz normal, das passiert anderen auch.“
Die Datenerhebung der ForuM-Studie, sie sei ein Anfang der Aufarbeitung. Das Ausmaß der Taten, so Schwarz, sei weitaus größer als bisher bekannt und auf Basis der Daten nicht zuverlässig abschätzbar: „Es gibt dringend was zu tun.“ Eine Dunkelfeldschätzung geht von 100000 Betroffenen aus für den Zeitraum von 1950 bis heute. „Sie alle tragen ihre Wunden und Narben ein Leben lang mit sich.“ Inzwischen kenne er etwa 150 Geschichten von Betroffenen. „Da gibt es keinen einzigen Täter, der Reue zeigt.“
Täter sind übrigens keineswegs nur Pfarrer (laut ForuM-Studie etwa 19 Prozent). Sie kommen aus allen Bereichen, darunter sind Kirchenmusiker genauso wie Gemeindepädagogen oder Ehrenamtliche. Bis in die 2010er Jahre hinein hätten betroffene Personen keine bis nur wenig Unterstützung erfahren, fuhr Schwarz fort. „Bei uns doch nicht“, sei eine weit verbreitete Ansicht gewesen. „Harmoniezwang“ und „Konfliktunfähigkeit“ benennt die Studie in diesem Kontext.
Die Uneinheitlichkeit zwischen den Landeskirchen ist groß. So unterscheidet sich die finanzielle Anerkennungsleistung bei sexualisierter Gewalt beträchtlich, die Spanne reiche von 5000 bis 100000 Euro, so Schwarz. Für mehr Einheitlichkeit soll ab 1. Januar kommenden Jahres eine neue Anerkennungsrichtlinie der EKD sorgen, indem sie einheitliche Standards für Anerkennungsverfahren in evangelischer Kirche und Diakonie setzt.
Als die mit großer Anspannung erwartete ForuM-Studie im Januar 2024 in Hannover veröffentlicht wurde, habe er sich „einen Aufschrei der Gemeinden gewünscht: ,Wir stehen auf der Seite der Betroffenen‘“, offenbarte Schwarz. Dieser Aufschrei blieb aus. Auch das Medienecho war eher verhalten. Umso hartnäckiger setzt er sich dafür ein, die Öffentlichkeit für das Thema Missbrauch zu sensibilisieren. Und er hat einen Traum: „Kirche schafft es, so mit dem Thema umzugehen, dass andere sich daran orientieren können.“
Schutzkonzepte, die alle kirchlichen Einrichtungen vorhalten müssen, um Kinder und Jugendliche vor (sexualisierter) Gewalt zu schützen, sind nach seiner Ansicht von zentraler Bedeutung: „Ich meine aber keine Schutzkonzepte, die irgendwo im Schrank stehen und von denen kaum jemand etwas weiß, sondern Schutzkonzepte, die mit Leben gefüllt werden.“ Idealerweise würden die von allen Mitarbeitenden einer Gemeinde gemeinsam erarbeitet. Man müsse Fragen stellen und miteinander im Gespräch bleiben, damit eine Kirchengemeinde zu einem Ort wird, an dem Menschen sich sicher und wohl fühlen.
„Wir können viel tun, aber letztlich geht es um eine Frage der Haltung. Die kann man nicht durch Gesetze regeln, Haltung muss man einüben.“ Fragen könnten dabei helfen: Wie geht man damit um, dass es sexuelle Gewalt innerhalb der Kirche gibt? Wie spricht man mit Betroffenen? Wie begegnet man Kindern und Jugendlichen? Was bedeutet die Gewalterfahrung vieler Menschen für die Sprache in den Gottesdiensten? In welchem Rahmen finden Seelsorgegespräche statt? „Wir müssen sprachfähig werden“, wird Schwarz nicht müde zu wiederholen: „Wir müssen drüber reden, drüber reden, drüber reden.“
Auf gesamtkirchlicher Ebene werden in den nächsten Wochen unabhängige Regionale Aufarbeitungskommissionen (kurz URAKs) ihre Arbeit aufnehmen, um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt zu übernehmen. (jub)
Hier finden Betroffene Hilfe
Betroffene Personen können sich an die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der EKHN wenden: E-Mail: geschaeftsstelle@ekhn.de, Telefon 06151/405 106.
Es gibt auch ein anonymes Meldeportal
Informationen zu Studienergebnissen, Meldestellen und Maßnahmen findet man hier.
Die ForuM-Studie
Im Januar 2024 ist die umfassende Studie zur „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie Deutschland“ – kurz „ForuM“ – veröffentlicht worden. Rund drei Jahre lang untersuchte ein unabhängiger Forschungsverbund im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie. Zentrale Kritikpunkte der Forschenden sind unter anderem, dass ein „Milieu der Geschwisterlichkeit“, der feste Glaube daran, dass die Kirche ein sicherer Ort ist und eine föderale Struktur der evangelischen Kirche mit unklaren Zuständigkeiten sexualisierte Gewalt begünstige.
Evangelisches Dekanat Büdinger Land | Bahnhofstraße 26 | 63667 Nidda
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