Der Schrei von Golgatha hallt auch heute

von Birgit Hamrich

für den 29. März 2024

Pfarrerin und Dekanin Birgit Hamrich. Foto: Daniel Lijovic
Pfarrerin und Dekanin Birgit Hamrich. Foto: Daniel Lijovic

Auf Golgatha steht die Zeit still. Karfreitag. Schmerzen, Trauer, Angst – ewig und drei Tage. Für die einen. Für die anderen ist es ein Tag, wie jeder andere auch.

 

„Und er trug sein Kreuz

Und ging hinaus zur Stätte,

die da heißt Schädelstätte,

auf hebräisch Golgatha.

Dort kreuzigten sie ihn.“

 

So lese ich in der Bibel, wo der Evangelist Johannes die Kreuzigung Jesu beschreibt. „Warum hast du mich verlassen?“ Warum lässt du mich hängen, Gott?“ Es ist ein Schrei, der die Stille zerreißt, der von Golgatha bis in unsere Tage an viel zu vielen Orten unserer Welt auch heute hallt.

 

Jedes Jahr lasse ich mich aufs Neue hineinnehmen in die überwältigenden Gefühle und Dynamik, die diese Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu entfaltet - stellvertretend für all das himmelschreiende Elend dieser Welt. Hier finden sich Verrat und Verleugnung, sinnlose Gewalt und Schmerz, Machtmissbrauch und Grausamkeit, die mit einem Donnerschlag besiegelt wird.

 

Wie ein Scheinwerfer über die Bühne wandert und einzelne Szenen ausleuchtet, so leuchtet der Evangelist Johannes seine Erzählung in der Bibel vom Sterben Jesu aus. Er richtet den Lichtkegel auf die wenigen Menschen, die vereinzelt in der Nähe des Kreuzes stehen. Die meisten Menschen aus Jesu Umfeld hatten sich nach dessen Gefangennahme völlig erschöpft, desillusioniert und entkräftet entfernt.

 

Da sind die vier römischen Soldaten geblieben, die routiniert, die Kleider der Sterbenden untereinander aufteilen. Was werden sie wohl abends ihren Frauen und Freunden beim Stammtisch geantwortet haben auf die Frage: „Und, wie war dein Tag so?“ Der Lichtkegel erfasst drei Frauen, die bis zum Schluss dageblieben waren: Maria, die Mutter, die sich an ihrer Schwester festhält, und Maria Magdalena, die Freundin. Und noch einer ist da, berichtet der Evangelist: der Freund Jesu steht hilflos und verzweifelt daneben. Gefangen in seiner Angst, in seinem Leid.

 

„Maria, das ist dein Sohn! -

Johannes, das ist deine Mutter!“

 

Mit der wenigen Kraft, die ihm in seinen letzten Atemzügen geblieben war, spricht Jesus die beiden an, lenkt ihren Blick auf den jeweils anderen und holt sie aus ihrer Einsamkeit heraus: als Wegbegleiter in unfassbarer Trauer. Es ist kaum auszuhalten, wenn eine Beziehung irreversibel zu Ende geht, wenn das eigene Kind, der geliebte Mensch stirbt. Schmerz und Trauer machen einsam. Das Leben zieht vorbei. Ein Zurück in den Alltag ist kaum vorstellbar und nicht gewollt.

 

Ich lese weiter, was Johannes schreibt, und merke, wie zaghaft und zerbrechlich unter dem Kreuz Jesu eine neue Gemeinschaft entsteht. Eine neue Familie Gottes. Zwischen der Mutter und dem Freund. Sie können einander Halt geben, sie müssen sich ihrer Tränen nicht schämen, sie fühlen sich miteinander und mit dem Sterbenden verbunden. „Von dieser Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ Eine kaum wahrnehmbare Perspektive leuchtet auf. Es ist wie das Ahnen des Morgenrots, das sich am noch dunklen Horizont auftut.

 

Als Christenmensch möchte ich mich daran festhalten, wenn die Zeit auf einmal stillsteht und der Scheinwerfer verlischt. Ich möchte mich festhalten an diesem zarten, flüchtigen Silberstreifen und darauf vertrauen, dass das Aufstehen ins Leben auch heute gilt.                                                            Birgit Hamrich ist Dekanin des Evangelischen Dekanats Büdinger Land