Glaube im Alltag

von Ulrich Bauersfeld

für den 9. Juni 2024

Pfarrer Ulrich Bauersfeld. Foto: Daniel Lijovic
Pfarrer Ulrich Bauersfeld. Foto: Daniel Lijovic

Am 9. Juni ist der zweite Sonntag nach Trinitatis. Weihnachten, Ostern und andere Feste sind vorbei. Das nächste halbe Jahr wird im Kirchenjahr nach „Trinitatis“ gezählt – dem Sonntag nach Pfingsten. In diesem Jahr wird es 23 „Sonntage nach Trinitatis“ geben. Alles langweilig – oder was?

 

Doch das stimmt gar nicht. Diese Zeit hat auch einen eigenen Charakter. Sie ist nicht die Zeit der Feiern und Feste, sondern die Zeit des ganz normalen Alltags. Und so sprechen auch die Texte und Lieder in diesen Alltag hinein und erzählen davon, was Menschen mit Gott erleben – im ganz normalen Alltag.

 

Einer der Texte für den morgigen Sonntag steht im Matthäus-Evangelium. Jesus sagt hier: „Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben. Ich meine es gut mit euch und sehe auf niemanden herab. Bei mir findet ihr Ruhe für euer Leben.“ (Mt 11, 28f – Übersetzung „Hoffnung für alle“)

 

In dieser modernen Übersetzung fällt mir eine Formulierung auf: „Ich meine es gut mit euch und sehe auf niemanden herab.“ Es ist eine etwas freiere Übertragung des Originals, trifft aber – meine ich – die Wahrheit. So hat sich Jesus verhalten. Er hat zwar mit manchen Leuten gestritten, ihnen die Meinung gesagt – doch er hat nie auf sie herabgesehen. Er ist allen Menschen in Liebe begegnet. Auch seine Gegner wollte er letztlich zu einem Leben mit Gott einladen. Jesus sieht uns Menschen in Liebe an – auch heute noch. Er sieht nicht auf uns herab, sondern schaut uns mit Freundlichkeit und Wertschätzung an.

 

Neulich las ich in einem Andachtsbuch des schwedischen Autors Tomas Sjödin folgenden Gedanken: Je nachdem, wie ich einen anderen Menschen ansehe, mit welchem Blick ich ihn bedenke, gebe ich ihm die Möglichkeit, in meiner Nähe zu wachsen oder zu schrumpfen.

 

Jesus sieht uns Menschen so an, dass wir nicht schrumpfen, sondern wachsen. Er sieht auf niemanden herab. Kritik ist möglich. Klare Worte manchmal auch. Aber andere verachten, auf sie herabsehen: Das macht er nicht. Bei uns nicht – und bei den anderen auch nicht.

 

In seiner Nachfolge können auch wir andere Menschen auf diese Weise ansehen, egal, woher sie kommen oder wohin sie gehen, egal, wie sie aussehen oder was für Gewohnheiten sie haben. Wir können einander ansehen mit einem Blick, durch den wir wachsen – und nicht schrumpfen.

Ulrich Bauersfeld ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Wenings/Merkenfritz und stellvertretender Dekan im Dekanat Büdinger Land