von Michael Kuhnke
für den 9. Mai 2024
Vor vielen Jahren war eine kleine Delegation unserer Propstei Oberhessen zu Besuch bei der nordindischen Kirche. Mit einem kleinen Bus ging es auf Schotterpisten immer weiter und immer höher zu versteckten Dörfern im Himalaya. Es gab keine Leitplanken und der Abgrund neben uns führte 800 bis 1000 Meter hinunter. Mit traumwandlerischer Sicherheit wich unser indischer Fahrer Schlaglöchern und Ziegenherden aus. Plötzlich vor uns: Eine Gruppe buntgekleideter Frauen und Männer, die aus einem Linienbus kletterten. Der Bus hing rechts neben der Fahrbahn an zwei Baumstämmen, die verhinderten, dass er hinunter stürzte. Erleichtert aber auch nachdenklich schauten alle in den Abgrund und sagten: Achacha. Das kann man übersetzen mit: „Gott sei Dank!“ oder „Schicksal“ oder irgendwas dazwischen. Auch wir schauten hinunter, sahen den Bus, die Serpentinen der Schotterpiste, die hinauf führten und ganz unten ein silbernes Band: den Fluss im Tal. Und auch wir wurden nachdenklich, denn es hätte unser Bus sein können, der dort hing.
In der frühen Kirche gab es einen Disput über die Ideen des Origenes, der den freien Willen des Menschen betonte und über die Ideen des Augustinus, der die Vorherbestimmung des Menschen betonte. Heute wären die meisten Menschen im Westen wohl Anhänger des Origenes. Der Mensch entscheidet alles selber, ist seines Glückes Schmied. Wir leben im „Anthropozän“. Doch das ist auch sehr anstrengend: Alles muss selbst entschieden werden, ständig muss man sich neu erfinden und in den sozialen Medien darstellen. Mancher fühlt sich überfordert. Im Osten glaubt man mehr an das Schicksal und dass unsere Wege vorherbestimmt sind. Wer hat Recht?
Die Bibel sagt: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn. Er wird es wohl machen.“ (Psalm 37,5) und meint: Ja, es sind unsere Wege und wir entscheiden Vieles selber. Wir gehen die leichten Wege und die steinigen Wege, wir irren in Sackgassen und gehen zurück. Wir finden den richtigen Weg, wir gehen ihn allein oder gemeinsam und erreichen irgendwann den Gipfel. Und wir schauen hinunter und sehen diesen Weg und werden uns plötzlich bewusst, an wie vielen Stellen eine glückliche Fügung uns geführt und bewahrt hat. Wie viele Wunder uns begegnet sind, wie viele Menschen uns begleitet haben und noch begleiten. Und es wird klar: Freier Wille und Schicksal sind kein Widerspruch, nur zwei verschiedene Sichtweisen im Leben der Menschen, die Gott ihre Wege anvertrauen.
Michael Kuhnke ist Pfarrer im Seemental
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